- Megastädte: Ausufernde Ballungsgebiete auf dem Vormarsch
- Megastädte: Ausufernde Ballungsgebiete auf dem VormarschWer das ausgehende 20. Jahrhundert kennzeichnen will, spricht gewöhnlich von der »Ära des Automobils«, dem »Atom«- oder dem »Computerzeitalter«. Im Rückblick dominierte jedoch eine andere globale Entwicklung die letzten 100 Jahre, die in der öffentlichen Diskussion seltsamerweise keine große Rolle spielt: der Trend zur urbanen Lebensweise. Das 20. Jahrhundert ist eindeutig die Ära der Stadt.Städte wachsen schneller als die WeltbevölkerungErheblich schneller als die Erdbevölkerung wuchs die Zahl der Städter: Während sich die Menschheit seit Beginn des 20. Jahrhunderts auf gut sechs Milliarden Menschen im Jahr 1999 nahezu vervierfachte, verdreizehnfachte sich die Zahl der in Städten lebenden Menschen auf etwa drei Milliarden. Auch an der Wende zum dritten Jahrtausend wächst die Stadtbevölkerung immer noch dreimal schneller als die Erdbevölkerung. Lebten im Jahr 1900 nur etwa 15 Prozent der Menschheit in Städten, so ist es mit dem Jahr 2000 erstmals in der Geschichte mehr als die Hälfte — ein historischer Wandel. Vor allem die Liga der Riesenstädte expandiert rasch: 1995 registrierten die Vereinten Nationen (UNO) bereits 25 Megastädte mit einer Bevölkerung von jeweils mehr als 7,5 Millionen. Das sind so viele Menschen, wie derzeit im flächenmäßig zweitgrößten deutschen Bundesland Niedersachsen leben.Das explosive Wachstum der Metropolen geht bei weitem nicht allein auf den Geburtenüberschuss in den Städten zurück. Vor allem in den Ländern der Dritten Welt hat die Landflucht — jene gewaltige Bevölkerungsverschiebung vom Land in die Stadt — erst im letzten Quartal des 20. Jahrhunderts massiv eingesetzt. Das zeigen einige Fakten: 1950 lebten in Europa rund 73 Millionen Menschen in Millionenstädten, nahezu so viele wie in Asien und Lateinamerika zusammengenommen. 1990 lauteten die Zahlen für Europa 141 Millionen, für Asien 359 Millionen und für Lateinamerika 118 Millionen. Afrikas Millionenstädte hatten 1950 insgesamt drei Millionen, 1990 aber schon fast 60 Millionen Einwohner. Allein in China strömen am Ende des 20. Jahrhunderts Jahr für Jahr rund zehn Millionen Menschen vom Land in die Städte.Welche Dimension die Landflucht in der Dritten Welt in den nächsten Jahrzehnten annehmen wird, verdeutlicht ein Vergleich der derzeitigen Proportionen von Land- und Stadtbevölkerung in Industrie- und Entwicklungsländern: Während in Ländern wie Deutschland, Japan und den USA im Jahr 1995 mehr als drei Viertel der Bevölkerung in urbanen Zentren lebten, waren es in China, Indien und Nigeria noch kaum ein Drittel.Die rapide Verstädterung der Menschheit besitzt alle Eigenschaften eines Megatrends. In ihm bündeln sich die großen kulturellen und sozialen, ökonomischen und ökologischen Entwicklungen unserer Zeit. Da ist zunächst ein epochaler soziokultureller Umbruch: Die traditionellen und vielfältigen ländlichen Kulturen gleichen sich weltweit zusehends an. Städter pflegen überall einen ähnlicher werdenden Lebensstil — den Way of Life in einem »globalen Dorf« mit austauschbaren Wohn- und Arbeitsverhältnissen, Ernährungsweisen und Jugendkulturen. Städte, seit jeher die Träger menschlicher Zivilisation, beschleunigen diesen kulturellen Wandel.Ein radikaler ökonomischer Umbruch ist mit dieser Entwicklung verbunden. An die Stelle ländlicher Eigenversorgung (Subsistenz) tritt eine extrem arbeitsteilige, globalisierte Wirtschaft. Menschen tauschen das bäuerlich-handwerkliche Wohnen und Leben unter einem Dach gegen ein Pendlerdasein. Städte, die Standorte unternehmerischer Macht, beschleunigen mehr denn je den wirtschaftlichen Wandel. Zudem hat sich ein tief greifender wissenschaftlich-technischer Umbruch vollzogen — von der Elektrifizierung und Automatisierung des Berufs- und Alltagslebens über den massenhaften Einsatz von Computern und Telekommunikationstechniken bis hin zur zunehmenden Nutzung moderner Biotechniken für die Gesundheits- und Lebensmittelversorgung. Städte, bis heute die Zentren des Lernens und Forschens, beschleunigen mehr denn je den Trend zur weltweiten Wissensgesellschaft.Schließlich ist mit der Verstädterung auch ein bedrohlicher ökologischer Umbruch verbunden. Die Bilanz macht es deutlich: Städte, die insgesamt nur zwei Prozent der Landoberfläche bedecken, verschlingen drei Viertel aller Ressourcen und produzieren dementsprechend hohe Abfall-, Abwasser- und Abgasmengen.Die Vergangenheit wirft ein Licht auf die ZukunftWer in die Zukunft der Städte blicken will, tut gut daran, sich zunächst deren Vergangenheit anzuschauen. Daraus lässt sich zwar die künftige Entwicklung nicht vorausbestimmen oder gar im Detail ablesen — dazu ist das jeweilige Eigenleben der urbanen Zentren zu dynamisch und zu komplex. Aber der Blick zurück zeigt, wie sich Städte unter den gegebenen Umständen tatsächlich entwickelt haben. Beispielsweise lässt sich erkennen, wie sie die Vor- und Nachteile ihrer jeweiligen geographischen Lage sowie der politischen und wirtschaftlichen, technischen und kulturellen Umstände nutzten — oder auch nicht.In jeder Analyse der urbanen Entwicklung — ob historisch oder auf die Zukunft gerichtet — spielen zwei prinzipielle Faktoren eine maßgebliche Rolle: 1. Ihre Lage und Struktur ist ortsgebunden. Ihre physische Gestalt — Gebäude, Verkehrswege, Infrastrukturbauten — wandelt sich nur relativ langsam. So verging etwa nach der Wiedervereinigung ein gutes Jahrzehnt, bis das brachliegende Herz Berlins wieder einigermaßen überbaut worden ist. 2. Ihre Bewohner hingegen sind in wachsendem Maß flexibel — entweder weil sie die Vorteile des weltweiten Waren- und Dienstleistungsnetzes nutzen wollen oder weil sie als Verlierer des zusehends rascheren ökonomischen Wandels verdrängt werden. Ein entscheidender Beschleunigungsfaktor hierbei ist das leistungsfähiger werdende globale Kommunikationsnetz, vor allem das Internet.In diesem Spannungsfeld zwischen statischen und dynamischen Elementen entwickelten im Lauf des 20. Jahrhunderts immer mehr Metropolen eine Eigendynamik, die sich der ordnenden Hand herkömmlicher Stadtplanung inzwischen weitgehend entzieht. Da verkommen mit großer Hoffnung errichtete und durchgrünte Hochhausviertel am Stadtrand zu sozialen Problemzonen mit hoher Jugendkriminalität. Da erleben heruntergekommene Gewerbegebiete eine Renaissance als begehrte, zentrumsnahe Wohnquartiere. Da sehen sich die alteingesessenen Bewohner mancher Straßenzüge plötzlich in der Minderheit gegenüber Zuzüglern anderer Nationalität, Sprache und Hautfarbe. Städte sind also nicht einfach nur passive Behausungen für eine wachsende Zahl von Menschen, sie sind vor allem dies: sich ständig — und zunehmend schneller — aus sich heraus verändernde Riesenorganismen.Weltstadt im Wandel: New York zwischen 1900 und 1999New York und seine Geschichte in den letzten 100 Jahren symbolisiert wie keine zweite Stadt das 20. Jahrhundert. Ihre Entwicklung zeigt beispielhaft, und zwar durchaus nicht immer mit positivem Resultat, wie sich immobile und mobile Faktoren gegenseitig beeinflussen. Diese Stadt, so schreibt der New Yorker Autor Thomas Wolfe, sei das »Rom, Paris, London des 20. Jahrhunderts«. Und New York ist sogar noch einiges mehr:(1) als Sitz der Vereinten Nationen ist es eine Art Welthauptstadt;(2) es ist der wichtigste Finanzplatz der Erde und zugleich Trendsetter in Mode und Kultur;(3) mit seiner immer noch unübertroffenen Wolkenkratzer-Skyline ist es nach wie vor der Inbegriff einer Global City, auch wenn die höchsten Gebäude der Welt heute in Kuala Lumpur stehen und sich morgen in Schanghai erheben werden.In seinem Zentrum Manhattan »beginnt vieles sehr viel früher und sehr viel rascher als anderswo«, urteilt die Zeitschrift »Geo-Special«. »Hier entstehen jene Beben, die oft genug den Globus erschüttern: politisch, wirtschaftlich, kulturell.«Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Metropole am Hudson mit ihren damals schon fast 3,5 Millionen Einwohnern vor allem für Einwanderer aus Europa das Tor zur Neuen Welt. Doch auch im Jahr 1999 stellen die Immigranten — nun vor allem aus Südamerika, Afrika und Asien — immer noch etwa 40 Prozent der knapp 7,5 Millionen Bürger. New Yorker sind im Wortsinn Welt-Städter: Hier leben rund 100 ethnische Gruppen, die fast doppelt so viele Sprachen sprechen. Angesichts dieser Vielfalt und Dynamik spricht zum Ende des 20. Jahrhunderts niemand mehr — wie noch in den 1950er-Jahren — vom Schmelztiegel. »New York ist kein Mosaik«, charakterisiert der US-amerikanische Journalist Jim Dwyer seine Heimatstadt, »sondern eine Stadt der endlosen, stets verwirrenden Brüche.« Das Leben ist hier »einfach unglaublich, unvergleichbar«, urteilte sein Landsmann, der Autor Paul Auster. »Was immer man auch erklären mag — das Gegenteil stimmt ebenso. Auf jeden Schrecken folgt Schönheit.«Nicht nur der heutige Zustand entzieht sich einer nach Kategorien geordneten Beschreibung. Auch der Werdegang der Metropole in diesem Jahrhundert war keineswegs die Geschichte eines stetigen Aufstiegs. Die Zahlen der Einwohnerentwicklung geben denn auch die tatsächliche soziale Dynamik nur oberflächlich wieder: Im Jahr 1900 war New York die bei weitem größte Stadt Amerikas; bis 1950 hatte sich die Zahl der Bürger innerhalb der Stadtgrenze auf fast acht Millionen mehr als verdoppelt. Der Ballungsraum war zu dieser Zeit auf 12,3 Millionen Einwohner angeschwollen und bildete die weltweit mit Abstand größte urbane Agglomeration.Seitdem sank die Bevölkerungszahl der Kernstadt wieder leicht, während sie im Ballungsraum bis 1999 vergleichsweise moderat auf 16,6 Millionen Menschen anstieg. Damit fiel New York vom ersten auf den fünften Rang zurück — nach Tokio, Bombay, Sao Paulo und Schanghai. Bis zum Jahr 2010 werden sich in dieser Rangliste wohl noch einige weitere rasch wachsende Drittwelt-Agglomerationen wie Lagos, Jakarta und Karatschi an der Hudson-Metropole vorbeischieben. Schließlich weist New York von den zehn derzeit größten Ballungsräumen der Erde die geringste jährliche Bevölkerungswachstumsrate auf.Dominanz in den heutigen SchlüsselfunktionenDie schiere Zahl der Einwohner sagt jedoch wenig über den tatsächlichen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Rang einer Stadt aus. New York ist seit jeher eine sich besonders dynamisch wandelnde Stadt. Sie hat zwar nach dem Zweiten Weltkrieg einen großen Teil ihrer einstigen industriellen Basis und des Warenhandels über den Hafen verloren. Dafür dominiert sie zum Ende des 20. Jahrhunderts in den Schlüsselfunktionen der globalen Dienstleistungsgesellschaft — Finanzen, Medien und Moden. Auf diesen Feldern konkurriert sie mit den drei anderen Weltstädten London, Paris und Tokio sowie, zumindest in Teilbereichen, mit den »Aufsteigern« Los Angeles und Hongkong.Mitte der 1970er-Jahre erlebte die Metropole am Hudson einen Beinahebankrott. Ihr Comeback verdankt sie indes nicht nur dem seit dieser Zeit einsetzenden ökonomischen Aufschwung. So konnten die vermeintlich unaufhaltsamen Trends zu höherer Kriminalität, zu mehr Drogen, zu ausgebrannten Slums und gewaltsamen ethnischen Konflikten seit 1994 unter dem Law-and-Order-Bürgermeister Rudolph Giuliani gestoppt, ja umgekehrt werden.Beispielsweise sank die Mordrate innerhalb der Stadt bis 1998 auf ein Drittel, und der Times Square am Theaterdistrikt von Manhattan, der zum Rotlichtbezirk mit Drogendealern und Prostituierten verkommen war, gilt Ende der 1990er-Jahre gar als Modell urbaner Wiederbelebung. Das »Wunder« lasse sich, schrieb »Spiegel«-Korrespondent Jürgen Neffe 1998, »aus den New Yorker Verhältnissen« erklären: »Die Stadt verfügt, wohl ihr wichtigster Rohstoff, über beispiellose innere Energien, die sich ebenso schöpferisch wie zerstörerisch entfalten können.«Wie bereits bei der großen Wirtschaftskrise Ende der 20er- und Anfang der 30er-Jahre ging New York auch aus dem innerstädtischen Zerfall — dem »urban decay« — der 70er- und 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts gestärkt hervor. Sein Einfluss reicht heute weiter denn je: Als »Global City« existiert die Stadt mit den Worten der New Yorker Stadtforscherin Saskia Sassen »in einem weltumspannenden Netzwerk, als Stützpunkt und Organisationsknoten für die globalen Operationen des Kapitals«. Oder, anders gesagt: Dank moderner Kommunikations- und Verkehrstechnik schrumpft für New York der Rest der Welt zum Vorort oder zur Nachbargemeinde.New Yorks Kern ist die schmale Felseninsel Manhattan, eine — so das »Time Magazine« — »39 Kilometer lange Sardinendose«, bevölkert von fast anderthalb Millionen Einwohnern und tagsüber zusätzlich von ebenso vielen Pendlern aus dem Ballungsraum. Hinzu kommen Hunderttausende von Touristen und Vorstädtern, die zum Einkaufsbummel oder Vergnügen in den »Big Apple« strömen.Abermals wandelt sich die Metropole aus sich heraus. Hinter der scheinbar starren Ordnung, die Manhattans großenteils schachbrettartig angelegtes Straßennetz auf den ersten Blick nahe legt, hinter den Mauern der vermeintlich für die Ewigkeit errichteten Türme herrscht unentwegter Wandel. Riesige Bürofluchten, ja ganze Wolkenkratzer, wie etwa der 282 Meter hohe Wall Tower Nr. 40 aus dem Jahr 1929, werden den neuen technischen — und modischen — Bedürfnissen angepasst. Gewaltige, aber nach wenigen Jahrzehnten unrentabel gewordene Büro-, Hotel oder Apartmentklötze verschwinden binnen weniger Wochen aus dem Stadtbild. Neue, höhere, dem Zeitgeist und den Gewinnerwartungen besser entsprechende Skyscraper wachsen fast ebenso schnell nach — im Finanzdistrikt, an der Park Avenue, neben der Carnegie Hall.Von 1916 an wandelt sich die Form der bis dahin lotrecht vom Gehweg aufsteigenden, seinerzeit schon bis zu 241 Meter hohen Wolkenkratzer: Um Licht in die Straßenschluchten zu bringen, erlässt die Stadt einen Bebauungsplan, der mit zunehmender Höhe treppenartig zurückweichende Gebäudestufen (»setbacks«) erzwingt. Mitte der 1950er-Jahre setzt sich mit Mies van der Rohes »Seagram Building« an der Park Avenue ein neuer Stil durch: glatte gläserne Türme, die von der Straße zurückgesetzt stehen und somit freien öffentlichen Platz schaffen. Zwei Jahrzehnte später sind die Bauherren der langweilig-austauschbaren Glaskästen überdrüssig. Postmodern-verspielte Giebel, kompliziert verschachtelte, geometrische Baukörper und sogar ovale Türme wie das »Lipstick Building« bringen neue Abwechslung in den Wolkenkratzerwald. Vollverglaste, klimatisierte und oft mehrstöckige Einkaufspassagen — »Malls« — am Fuß der Türme bieten öffentlichen Raum. Zugleich wachsen in den teuersten Lagen die Wohnhochhäuser bis auf 300 Meter und 90 Stockwerke.Aber nicht nur an der Oberfläche, auch im felsigen Untergrund verändert sich die Metropole fortwährend. U-Bahn- und Straßentunnels, Abwasserkanäle und Kabelschächte bilden ein zusehends dichteres Geflecht technischer Wurzeln. Die neuesten, in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts gebohrten Trinkwassertunnels liegen bis zu 210 Meter unter den Straßen New Yorks. Sie versorgen die Riesenstadt mit täglich mehr als fünf Millionen Kubikmeter Wasser aus den gut 160 Kilometer entfernten Catskill Mountains.Weniger sichtbar, dafür aber dynamischer als das architektonische Bild wandeln sich die unüberschaubar vielfältigen Wohnquartiere. Chinatown breitet sich nach Little Italy aus. Yuppies wandeln heruntergekommene Gewerbegebäude aus dem letzten Jahrhundert in schicke Lofts um. In der wohlhabenden Upper East Side Manhattans bezahlen Reiche und Superreiche aus aller Welt, ohne mit der Wimper zu zucken, mehr als 5000 Dollar pro Quadratmeter für ein Apartment in einem der neuen Wohntürme. Im bürgerlichen Rego Park, nahe dem Zentrum von Queens, sehen sich jüdische Flüchtlinge aus Nazideutschland nach vier Jahrzehnten relativer sozialer Stabilität den Neuankömmlingen aus Indien gegenüber in der Minderheit. Im gestern noch verkommenen Williamsburg, von Manhattan nur durch den East River getrennt, floriert plötzlich die interessanteste Künstlerszene der Metropole.Angesichts dieses unentwegten baulichen und sozialen Wandels lässt sich an der Schwelle zum neuen Jahrtausend mit einiger Gewissheit prophezeien: Die Metropole am Hudson wird im 21. Jahrhundert zwar nicht die bevölkerungsreichste, wohl aber eine der einflussreichsten und wohlhabendsten Megastädte der Welt sein. Sie wird weiterhin Menschen in Scharen anlocken: Geschäftsleute und Touristen sowieso, aber auch arme und reiche Zuwanderer, die — jeweils auf ihre Weise — in der Stadt der Städte ihr Glück suchen werden.Das 21. Jahrhundert: die Ära der MegastadtDie Weichen für das Zeitalter der Megastädte sind gestellt: In den Entwicklungsländern ist der Trend zu Ballungsräumen mit zehn, zwanzig und mehr Millionen Einwohnern auf absehbare Zeit unumkehrbar. In den Industrieländern stagniert zwar die Einwohnerzahl der Kernstädte und die der Ballungsräume wächst nur noch langsam. Doch verkehrs- und kommunikationstechnische Fortschritte dehnen die tatsächlichen ökonomischen und kulturellen Einflussgrenzen der Metropolen weit über die Verwaltungs-, ja sogar Staatsgrenzen aus.Um die absehbare Zukunft der wohlhabenden — und dank gewachsener Infrastukturen auch relativ gut organisierten — Weltstädte muss sich niemand Sorgen machen. Dies zeigen die Beispiele New York, London, Paris und Tokio. Vor allem die japanische Metropole beweist tagtäglich, dass unter günstigen Voraussetzungen auch 27 Millionen Menschen in einem Ballungsraum leben können, ohne dass es zu Chaos, Mord und Totschlag oder zu sozialem und kulturellem Niedergang plus chronischer Umweltverschmutzung kommt. Diese hoch entwickelten Global Citys erleben ein stetes qualitatives Wachstum, wobei ihr Einfluss- und Einzugsbereich den Erdball zusehends enger umspannt.Wesentlich problembeladener erscheint die nahe und mittlere Zukunft der Metropolen in den Entwicklungs- und Schwellenländern. Zwar kann sich dort das Wachstum einzelner Ballungsräume durch Wirtschaftkrisen und soziale Unruhen verlangsamen — etwa in Indonesiens Hauptstadt Jakarta, wo es nach der Wirtschaftskrise von 1997 zu Aufruhr kam. Aber alle wesentlichen Indikatoren sprechen dafür, dass die meisten heute schon drangvollen Agglomerationen rasch weiter anschwellen werden. So beherbergen Megastädte wie Sao Paulo und Kairo, Karatschi und Schanghai im Durchschnitt weitaus jüngere Einwohner als die Metropolen der Industrieländer. Insgesamt leben zum Ende des 20. Jahrhundert fünf Sechstel aller Jugendlichen in den Städten dieser Welt. Allein schon deshalb ist — berücksichtigt man zudem die hohen Geburtenraten in den meisten Ländern der Dritten Welt — ein weiteres schnelles Wachstum der städtischen Bevölkerung unvermeidlich. Darüber hinaus hat in vielen Entwicklungsländern die Landflucht erst in jüngster Vergangenheit richtig eingesetzt.Beide Entwicklungen zusammengenommen lassen die urbane Bevölkerungszahl in Schwindel erregendem Tempo ansteigen. Die Projektion für die Bevölkerungsentwicklung in den derzeit am schnellsten wachsenden Megastädten zeigt das Ausmaß: Blieben die Wachstumsraten des Zeitraums 1990 bis 1995 bis zum Jahr 2010 unverändert, würde etwa die nigerianische Metropole Lagos auf mehr als 23 Millionen Einwohner anschwellen; Bangladeschs Hauptstadt Dhaka müsste zu diesem Zeitpunkt rund 18 Millionen beherbergen.Und noch ein Beispiel: Die indische Wirtschaftsmetropole Bombay, sie war 1995 mit gut 15 Millionen Einwohnern die fünftgrößte Stadt der Erde, würde bei unverändertem Wachstum im Jahr 2025 unvorstellbare 52 Millionen Menschen beherbergen. Das sind doppelt so viele, wie heute in Tokio wohnen, und fast ebenso viele wie in ganz Großbritannien.Solche simplen Hochrechnungen zeigen zwar die potenzielle Gefahr ungebremsten Bevölkerungswachstums auf, doch ob sie die tatsächliche Fortentwicklung dieser Städte erfassen, ist noch längst nicht ausgemacht. Denn egal, wie ernst die heutige Situation auch sein mag, mit schlichter Arithmetik lässt sich das Schicksal einer Stadt nicht vorhersehen. Dieser Ansatz lässt nämlich die Eigendynamik der Städte und ihrer Bewohner außer Acht. Das Beispiel des um 1975 vermeintlich unrettbar zum Bankrott verurteilten New York sollte allen Propheten urbaner Katastrophen eine Warnung sein, und zwar auch bei Prognosen über die Zukunft von Drittweltmetropolen.Dafür spricht etwa auch die Entwicklung in Mexico-City und Kalkutta: Seit den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts haben Auguren für beide urbanen Moloche immer wieder den Kollaps noch vor dem Jahr 2000 vorausgesagt. Doch diesen Städten geht es, trotz ihrer unbestreitbar gewaltigen Probleme, längst nicht so schlecht wie befürchtet. Die mittelamerikanische Metropole schwoll keineswegs zum bevölkerungsreichsten Ballungsraum der Erde an, und ihre Bewohner sind bislang auch nicht im Smog erstickt. Die verslumte Riesenstadt im Gangesdelta erfreut sich sogar eines moderaten wirtschaftlichen Aufschwungs.Megastädte trotzen den UntergangsszenarienPolitikern, Journalisten und auch Stadtplanern mögen zwar Megastädte unregierbar erscheinen, aber das heißt noch lange nicht, dass sie nicht überlebensfähig wären. Mehr noch als New York oder Tokio bezeugen vitale urbane Monstergebilde wie Sao Paulo, Mexico-City oder Bombay, dass offensichtlich auch die Metropolen der Dritten Welt keineswegs automatisch zum Untergang verurteilt sind. Ihr dramatisches Bevölkerungswachstum in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts lässt sich nicht nur negativ, sondern auch positiv deuten, und zwar in doppelter Hinsicht: Sie sind für Zuwanderer aus ländlichen Gebieten zum einen offensichtlich sehr attraktiv, und zwar selbst dann, wenn die Stadt ihnen häufig nicht mehr als ein Leben im Slum bietet. Zum anderen besitzen ihre Einwohner, inklusive der Bewohner von Elendsvierteln, offenbar genug Kreativität und Energie, um den Alltag auch unter diesen erschwerten Bedingungen einigermaßen zu bewältigen.Der herkömmliche Begriff »Stadt« greift angesichts dieser realen Entwicklungen zweifach zu kurz: Vor allem im Fall westlicher Weltstädte entspricht er mit seiner Beschränkung auf geographisch eng definierte Verwaltungsgrenzen bei weitem nicht mehr der tatsächlichen kulturellen, ökonomischen und ökologischen Ausdehnung. Bei den Megastädten der Schwellen- und Entwicklungsländer wiederum entspricht er mit der Beschränkung auf zeitlich eher statisch definierte Siedlungen, die sich mit herkömmlichen Mitteln planen und verwalten lassen, bei weitem nicht der tatsächlichen sozialen und wirtschaftlichen Dynamik.Beide definitorischen Schwächen sollten zu denken geben: Städte sind nach modernem wissenschaftlichem Verständnis komplexe Systeme, deren Entwicklung sich prinzipiell nicht exakt voraussagen lässt. Das heißt aber auch: Planbar sind solche Systeme nicht. Diese Erkenntnis der Mathematik und Naturwissenschaften gewann im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts auch für soziale und ökonomische Phänomene an Erklärungskraft. Es wäre töricht, sie bei dem Versuch, die Zukunft der Städte vorherzusagen, nicht zu beherzigen.Günter HaafWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Stadtentwicklung: Das neue Bild der Stadt als SuperorganismusFrühe Stadtkulturen, herausgegeben von Wolfram Hoepfner. Heidelberg u. a. 1997.Leben in der Stadt. Lust oder Frust, bearbeitet von Stephan Burgdorff. Hamburg 1998.Sassen, Saskia: The global city. New York, London, Tokyo. Princeton, N. J., 1991.Zeiten der Stadt. Reflexionen und Materialien zu einem gesellschaftlichen Gestaltungsfeld, herausgegeben von Ulrich Mückenberger. Bremen 1998.
Universal-Lexikon. 2012.